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Papierfabrik Niederwutzen / Stara fabryka papieru Osinów Dolny
Die
ehemalige Papierfabrik "Zellstoffwerk Johannesmühle" (in einigen
Quellen auch "Johannismühle" genannt) bei Niederwutzen ist vielen
Berlinern bekannt. Aber nicht Ihrer (vergleichsweise kurzen) Geschichte
wegen, sondern weil in den Ruinen der alten Fabrik seit 1993 der größte
polnische Basar an der deutschen Grenze eröffnet hat. Besucht man die
einstige Papierfabrik heute, so hat man den Eindruck, dass zigtausende
Berliner nur zum Tanken und Zigaretten kaufen die 50 Kilometer lange
Strecke nach Niederwutzen mit dem Auto zurücklegen. Um die
Steuereinnahmen, die dem deutschen Staat dadurch entgehen, wieder
hereinzubekommen, hat die Straßenverkehrsbehörde Brandenburg übrigens
die Bundesstraße 158 von Marzahn nach Hohenwutzen mit unzähligen
Starenkästen gepflastert. Insofern dürfte sich die Ersparnis für die
Tanktouristen in vielen Fällen erübrigt haben, aber das ist ein anderes
Thema.
Im Herbst 2012 brannte die alte Papierfabrik und viele der Marktstände
aus, ein Wiederaufbau ist ungewiss.Zugegeben, die alte Zellstoff-Fabrik
ist kein schöner Ort. Trotz Ihrer Lage direkt in einer Mäander der Oder
ist sie seit 1993 zum provisorisch-anmutenden polnischen Basar geworden
- Wellblechbuden, bunte Schilder, Wartezonen für Tanktouristen. Dennoch
ist es auch für jenen Besucher reizvoll, der nicht aufgrund des
Warenangebots herreist, einmal über den Markt zu schlendern, um
beispielsweise die Szenerie eines polnischen Friseursalons in einer
leergeräumten deutschen Fabrik aus dem Zweiten Weltkrieg auf sich
wirken zu lassen.
Die Zellstoff Waldhof AG suchte in den 1930er Jahren einen Standort für
ein neues Werk unweit von Berlin. Im Jahre 1937 fand sie einen 30.000
qm großen Bauplatz an der Oderbrücke zwischen Hohen- und Niederwutzen.
Es gab dort auch schon einen Bahnanschluss: Die 1930 errichtete
Kleinbahn von Bad Freienwalde über Hohenwutzen nach Zehden (stillgelegt
auf polnischer Seite im Januar 1945, auf deutscher Seite zwischen 1965
und 1967) hatte an dieser Stelle einen Bahnhof. Die Waldhof AG
errichtete also an jenem Bahnhof Altcüstrinchen eine Fabrik zur
Herstellung von Kiefernzellstoff im sog. Natronverfahren. Der Bau von
Papierfabriken war kriegswichtig, denn auch Spezialwolle für die
Sprengstoffindustrie wurde hier hergestellt. Im neuen Werk - mit dem
schönen Namen Johannismühle - gab es auch viele Labore - es wurde mit
Sulfatzellstoffen experimentiert. Papiersäcke und Textilien aus
Kartoffelkraut wurden versuchsweise aber auch hergestellt. Auch Gummi
aus der ukrainischen Kok-Saghyz-Pflanze sollte gewonnen werden oder
einheimische Gewächen für die Herstellung von Zigarettenpapier nutzbar
gemacht werden.
Erstmals
gelang in Niederwutzen die Gewinnung von weißen, hochfesten
Holzzellstoffen in einer Stufe ohne Druckkochung (bei 60-80°C). Auch
über einen erfolgreichen Aufschluss von Hölzern, Einjahrespflanzen und
Ligniten mit Natriumchlorit berichtete Fabrikant A. W. Sohn auf einer
Tagung vor Fabrikfabrikanten 1941. Im Frühjahr 1945 zog die Rote Armee
auf ihrem Weg nach Berlin durch Niederwutzen. Das gesamte Innere der
Fabrik wurde demontiert und in die Sowjetunion gebracht. Bis 1993 lagen
die Trümmer des Abraums in den Ruinen der Fabrik. Da die Oderbrücke
auch 1945 gesprengt wurde, war Niederwutzen das Ende der Welt - niemand
kam hier entlang - die morbide Szenerie störte also nicht.
Der
gewiefte polnische Unternehmer Adam Sablotzki hat nach der Wende 1989
darauf spekultiert, dass diese Oderbrücke wiederaufgebaut wird und
Niederwutzen dann der am nächsten am Berlin gelegene und schnell zu
erreichende Ort in Polen sein wird. Er pachtete die Ruinen der
Papierfabrik und ließ den Trümmerschutt abtragen. Und siehe da, 1993
wurde die Oderbrücke wieder aufgebaut. Tausende Händler aus Polen und
den sowjetischen Nachfolgerepubliken kamen hier her, in die alte
Papierfabrik, um den Deutschen ihre billigen Waren feilzubieten. Bis
heute ist das so, dank der Preisanpassungen im EU-Zusammenhang sind die
wilden Zeiten allerdings vorbei und der einstige "Polenmarkt"
entwickelt sich langsam hin zu einem gesetzten "Oder Center Berlin",
einem "open-air-Einkaufsbasar".
Oderauen bei Altcüstrinchen / Stary Kostrzynek
Ein paar Kilometer südlich der Oderbrücke Niederwutzen macht die Oder
einen großen Schlenker in östlicher Richtung. Hier, bei Altcüstrinchen,
fließt sie für kurze Zeit fast waagerecht in Ost-West-Richtung und
verbreitert sich seenartig zu einer breiten Auenlandschaft. Die
polnischen Dörfer liegen als an einem Südhang, sonnenbestrahlt. Der
Blick des Wanderers, der von Niederwutzen über den rot-weiß-markierten
Weg das Plateau herüber nach Altcüstrinchen läuft, schweift über das
breite Tal, die Oderauen und herüber zum bereits in Brandenburg
gelegenen Oderbruch. In Altcüstrinchen gibt es eine kleine
Feldsteinkirche, einst wohl einmal protestantisch, heute umgeweiht und
einen alten deutschen Friedhof. Von hier oben ist der Blick ebenso
eindrucksvoll.
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